Dieser Artikel ist eine wörtliche, unverfälschte Transkription des Originalartikels aus dem Jahre 1905.

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Die Probleme der Kleptomanie

Aus der Rubrik Mannigfaltiges / 1905

Inwieweit die Kleptomanie, das heißt die Stehlsucht solcher, die beim Stehlen einer krankhaften Neigung folgen, in das Gebiet der Geisteskrankheiten oder in das Verbrechen gehört, diese Frage wird wohl noch lange ein Streitobjekt der Wissenschaft bleiben. Schon der Name "Kleptomanie", vom griechischen klept = ich stehle und mania = der Wahnsinn, weist auf beide Gebiete hin. Es ist kein Zweifel, das die verbrecherische Neigung zum Stehlen auch reiche Leute befallen und das unentdeckt bleibende Befriedigung dieser verbrecherischen Neigung den betreffenden Personen wie ein Laster zur Gewohnheit werden kann. Solche Menschen, die nicht die Not zum Diebstahl treibt, sondern die Befriedigung eines Gelüsts, sind jedenfalls keineswegs alle als Opfer der Kleptomanie zu betrachten. Der wirkliche Kleptomane wird immer geistig abnorm sein, und der Krankheitszustand wird noch andere Merkmale aufweisen als die Sucht, sich Gegenstände, die anderen gehören, heimlich anzueignen.

Es sind in neuerer Zeit von Irrenärzten verschiedene Fälle von Kleptomanie beschrieben worden, denen allen gemeinsam ist, daß die Betreffenden auf eine ganz bestimmte Art von Gegenständen den Stehltrieb richteten. Der Pariser Irrenarzt Legrand de Saulle bekam zum Beispiel eine Kleptomanin in Behandlung, die nach und nach über dreihundert Herrenkrawatten gestohlen hatte. Ihre Stehlsucht stand im Zusammenhang mit anderen krankhaften Erscheinungen.

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Es ist erstaunlich, wie raffiniert diese "Spezialisten" oft vorgehen, um ihr Gelüst zu befriedigen, ohne "erwischt" zu werden. Eine Dame, die es auf Diamantringe abgesehen hatte, pflegte an ihren Schuhen zwischen Absatz und Sohle ein Stück Wachs zu befestigen; erregte nun beim Besuch eines Juwelierladens der Anblick eines solchen Ringes ihre Begierde, so wußte sie es unauffällig zu veranstalten, daß er zu Boden fiel, worauf sie mit dem Fuß auf ihne trat, so daß er sich in das Wachs eindrückte (verg. die Abbildung).

Fast auf jedem Gebiete des Kunst- und Raritätensammelns gibt es Kleptomanen dieses besonderen Fachs; es gibt Kleptomanen, die nur seltene Bücher, wertvolle Stahlstiche, kostbare Bronzen stehlen. Manche häufen in ihren Kisten und Kasten Hunderte von Geldbörsen auf, ohne den Inhalt zu beachten oder gar auszugeben. Aber nicht alle Kleptomanen sind Spezialisten in diesem Sinn. Manche stehlen wie diebische Elstern alles, was glänzt. Auch bei ihnen tritt oft ein erstaunlihes Raffinement ins Spiel.

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Unsere zweite Abbildung zeigt die Erfindung einer solchen Kleptomanin. Sie versah ein Strumpfband mit Haken. Durch eine Öffnung in ihrem Kleid verstand sie sehr geschickt, die in den Läden gestohlenen Gegenstände, Taschenuhren, Armbänder u. f. w., an die Haken aufzuhängen, um sie so nach Hause zu tragen. Es dauerte Jahre, bis man ihrem diebischen Treiben auf die Spur kam.

Dieses Raffinement beim Ausführen geheimer Absichten ist auch bei anderen geistigen Krankheitsformen keine Seltenheit. Es gibt deren viele, welche den eigentlichen Intellekt kaum trüben, dagegen bestimmte Kräfte der Phantasie, wie die Erfindungsgabe, steigern. Stets aber steht die Kleptomanie im Zusammenhang mit einer Schwäche des sittlichen Bewußtseins und der sittlichen Willenskraft.


Bibliothek der unterhaltung und des Wissens Jahrgang 1905 / Band 2 / Seite 230