Dieser Artikel ist eine wörtliche, unverfälschte Transkription des Originalartikels aus dem Jahre 1905.

Aus heutiger Sicht ethisch fragwürdige Ausdrucksweisen und Inhalte, sowie variierende Rechtschreibung sind nicht ausgeschlossen, wurden aber zwecks Authentizität nicht zensiert.


Ins Reich der Träume

Eine hygienische Plauderei. Von H. Wolfram / 1905

Daß wir durch die ermüdende Anstrengung einzelner Nervengruppen eine einschläfernde Wirkung erzielen können, die sich zuweilen sogar mit überraschender Schnelligkeit einstellt, hat sicherlich nicht nur jeder unserer Leser bereits an sich selbst erfahren, sondern es ist sogar den auf niedriger Entwicklungsstufe stehenden Naturvölkern von alters her bekannt gewesen. Der Gebrauch der Kinderwiege, den wir bis in das graue Altertum verfolgen können und dem wir in der einen oder der anderen Form fast unter allem Himmelsstrichen begegnen, ist ein ebenso überzeugender Beweis dafür, wie etwa das Verfahren der Lappen, ihren an Schlaflosigkeit leidenden Kranken durch den eintönig dumpfen Klang einer in gleichmäßigen Intervallen geschlagenen Trommel zu wohltätigen Schlummer zu verhelfen, oder die ganz ähnliche Methode der amerikanischen Indianer, die ein gleiche Wirkung durch monotonen Gesang zu erzielen wußten. Wenn koreanische Mütter ihre kleinen Lieblinge dadurch einschläfern, daß sie sie einige Zeit hindurch mit gleichmäßigen sanften Strichen in der Magengegend streicheln, und wenn die spanischen Bäuerinnen denselben Erfolg durch fortgesetzten Streichen in der Richtung der Wirbelsäule herbeiführen, so machen sie sich bewußt oder unbewußt jene eingangs erwähnte Erfahrung zu nutze, und auf nichts anderes als auf die bis zur Lähmung gesteigerte Ermüdung einzelner Nervengruppen läuft es hinaus, wenn indische Fakire sich dadurch in hypnotischen Schlaf zu versetzen vermögen, daß sie das heilige Wort „Om“ zwölftausendmal wiederholen, oder daß sie unverwandt auf ihre zur Höhe der Nase erhobenen Fingerspitzen starren.

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Namentlich das letztere Verfahren dürfte von ziemlich sicherer Wirkung sein, da eine Ermüdung der Augennerven erfahrungsgemäß am schnellsten den Schlaf herbeiführt. Beinahe alle Versuche, die man neuerdings angestellt hat, um das Heer der mit mehr oder weniger bedenklichen Nebenwirkungen behafteten arzneilichen Schlafmittel durch eine mechanische, unschädliche Einschläfermethode zu ersetzen, sind denn auch von dieser Erkenntnis ausgegangen. In den großen Hauptstädten der alten wie der neuen Welt, wo die „Hypnologie“ bereits zu einer richtigen Wissenschaft geworden ist, hat man die verschiedenartigsten Mittel und Wege ausfindig gemacht, um den oft so heiß ersehnten Trost- und Friedensbringer Schlaf ohne Inanspruchnahme des Apothekers herbeizurufen.

In allen Fällen sind es dabei die Augennerven, die man durch eine gleichmäßige Anstrengung zu ermüden sucht, indem man zugleich bemüht ist, jede ablenkende Gehirntätigkeit so vollständig als möglich auszuschalten. In allen Fällen sind es dabei die Augennerven, die man durch eine gleichmäßige Anstrengung zu ermüden sucht, indem man zugleich bemüht ist, jede ablenkende Gehirntätigkeit so vollständig als möglich auszuschalten.

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Wohl das einfachste zu diesem Zweck vorgeschlagenen Mittel ist das fortgesetzte Anstarren des eigenen Spiegelbildes, oder eines vor einem hellen Hintergrunde aufgehängten schwarzen Tuches. Einen Erfolg dürften sich davon indessen nur solche Personen versprechen, die Energie genug besitzen, gleichzeitig alle ihre Gedanken auf das Bild oder das Tuch zu konzentrieren. Die Gefahr einer Ablenkung ist sehr groß, und jedermann weiß aus eigener Erfahrung, daß schweifende Gedanken die schlimmsten Feinde des Schlummers sind.

Ungleich wirksamer erweisen sich die Einschläferungsmethoden, die das elektrische oder das Magnesiumlicht, welchem letzteren eine ganz besondere schlafmachende Kraft zugeschrieben wird, zu Hilfe nehmen. Die Ermüdung der Augen und des Gehirns erfolgt hier viel schneller, und die Gefahr der Gedankenablenkung ist eine viel geringere.

Ein auf diesem Prinzip beruhender, sinnreicher kleiner Apparat ist die „Alouette“, die man in den verschiedensten Formen konstruiert hat. Die gebräuchlichste ist die von uns im Bilde vorgeführte – ein mit einem Uhrwerk versehenes Kästchen, auf welchem sich zwei, horizontal rechtwinkelig zueinander gestellte und mit je sieben kreisrunden Spiegelplättchen besetzte Ebenholzstäbe drehen Der Apparat wird im verdunkelten Zimmer derart aufgestellt, daß ein schmaler Lichtstreif natürlichen oder künstlichen Ursprungs auf die sich drehenden Ebenholzplättchen fällt. Eben dorthin hat der Einzuschläfernde seinen Blick zu richten. Daß je nach der Schnelligkeit der Umdrehungen in kürzeren oder längeren Zwischenräumen erfolgende blitzartige Aufleuchten der Spiegel hat etwas zugleich Faszinierendes und in seiner Monotonie rasch Ermüdendes, so daß sich bei dem Beobachter sehr bald jener Druck in den Augen und jene Schwere der Lider einzustellen pflegen, die sicheren Vorboten des nahenden Schlummers sind.

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Eine andere „Alouette“ trägt statt der spiegelbesetzten Stäbe zwei nach dem Vorbild der Vogelschwingen gestaltete und gleich diesen bewegte Flügel, während ein dritter Erfinder es vorgezogen hat, eine kleine elektrische Lampe mit einem Uhrwerk zu verbinden und so zu umhüllen, daß bei der Drehung ihr Licht gleich dem Blinkfeuer mancher Leuchttürme in gleichmäßigen Intervallen aufblitzt und wieder erlischt.

Weniger kompliziert, weil sie eines Uhrwerks nicht bedarf, ist die sogenannte hypnotische Lampe, die hinter dem Kopfe des Einzuschläfernden aufgestellt wird und ihren durch besondere Vorkehrungen zu einem bleistiftdünnen Strahlenbündel eingeengten Lichtschein auf einen winzigen gewölbten Reflektor wirft, der sich in einiger Entfernung vor den Augen des Schlafsuchenden inmitten einer schwarzen kreisrunden Platte von ungefähr achtzehn Zoll Durchmesser befindet. Man behauptet, daß das Anstarren dieser von einem tiefdunklen Schatten umgebenen leuchtenden Miniatursonne von unfehlbarer Wirkung sei.

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Der hypnotische Kunststab mit der leuchtenden Kugel, dessen sich die Dame auf unserem vierten Bilde bedient, bedeutet im Grunde nur eine geringfügige Abänderung des Prinzips der hypnotischen Lampe. Statt auf einen feststehenden Reflektor fällt der Lichtschein hier auf ein an dem Stabende befestigtes poliertes Metallkügelchen, das der Experimentierende hin und her bewegt.

Wer ähnliche Wirkungen erzielen will, ohne sich umständlicher und kostspieliger Apparate zu bedienen, der möge es mit dem Anstarren einer durch einen tütenartig gedrehten Papierkegel betrachteten Kerzenflamme versuchen, obwohl gerade dies Experiment für schwache Augen nicht gar zu rätlich sein dürfte. Oder er möge seine Zuflucht zu dem von vielen besonders nachdrücklich empfohlenen Versuch mit der Flasche und der Kerze nehmen, das heißt er möge ein brennendes Licht derart zeitlich einer gewöhnlichen grünen Glasflasche aufstellen, daß ein leuchtender Fleck auf der gewölbten Oberfläche entsteht, und er möge seinen Blick unverwandt so lange auf diesen Fleck richten, bis ihm die Augen zufallen.

Bei dem Vorhandensein der nötigen Geduld und Konzentrationsfähigkeit tut es zuweilen sogar schon die hartnäckige Betrachtung eines langen, blank polierten Bleistiftes, dessen Ende man zwischen die Zähne genommen hat. Die Ermüdung er Augenmuskeln, die zu einer besonderen Anstrengung genötigt werden, trägt in diesem Fall wesentlich zur Beschleunigung des Erfolges bei. Ein Instrument, dessen sich Ätzte und berufsmäßige Hypnotiseure zur Einschläferung ihrer Patienten und Versuchsobjekte mit zumeist sehr prompter Wirkung zu bedienen pflegen, ist die umstehend abgebildete, mit einem Handgriff versehene Glaskugel, in deren Mittelpunkt sich ein kleiner blanker Metallknopf befindet und die zu etwa einem Drittel mit feinem türkisblau gefärbten Sande gefüllt ist.

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Der Experimentator bringt seine Hand mit diesem hypnotischen Ball vor das Gesicht des Einzuschläfernden und zwar so, daß sich die Glaskugel etwas oberhalb der Augenbrauen desselben befindet. Dann versetzt er das Instrument in halb schnelle, bald langsamere Drehung, so daß die feinen blauen Sandkörnchen um den blitzenden Metallknopf inmitten der Kugel wirbeln. Die Aufmerksamkeit des Beobachtenden wird durch dies Spiel unwiderstehlich gefesselt, während die auf anstrengende Weise nach oben gerichteten Augen sehr bald ermüden und durch die Telegraphie der zum Gehirn führenden Nervenstränge den Schlaf auslösen.

Der sogenannte „Faszinator“ unterschiedet sich von dem hypnotischen Ball dadurch, daß die Kugel – hier zumeist nur aus blankem Metall bestehend – nicht von der Hand eines Experimentierenden bewegt wird. Sie ist vielmehr mittels gebogenen Drahts an einem um den Kopf des Einzuschläfernden gelegten Ringe befestigt und pendelt oberhalb seiner Augenbrauen hin und her.

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Noch kunstreicher konstruiert ist die „zitternde Krone“, die ein Doktor Gaisse in Paris erfunden hat. Sie besteht aus drei um den Kopf zu legenden Metallbändern und mehreren mit Drähten und Federn an ihnen befestigten Kügelchen, die sich in beständiger zitternder Bewegung befinden und durch eine fortgesetzte sanfte Erschütterung des Kopfes des Schlafsuchenden den ersehnten Zustand herbeiführen sollen.

Die neue „Wissenschaft“, in welche wir unseren Lesern mit vorstehender Schilderung einen Einblick gewährt haben, ist noch sehr jung. Ihre von den Erfindern als unfehlbar gepriesenen Methoden und Apparate werden wohl manchem Falle, zumal wenn die Schlaflosigkeit auf tiefgreifenden krankhaften Störungen des Organismus beruht, ihren Dienst versagen, und die schlafbringenden Mittel des Arzneischatzes werden durch sie daher kaum jemals verdrängt werden. Aber man dürfte es schon als einen Gewinn betrachten, wenn der Gebrauch der letzteren mit der Zeit auf die schwereren Fälle beschränkt werden und dem großen Heere der ohne erhebliche Gesamterkrankung an Schlaflosigkeit leidenden nervösen Leute die Wohltat des Schlummers durch ein unschädliches und arzneiloses Verfahren vermittelt werden kann.



Bibliothek der unterhaltung und des Wissens Jahrgang 1905 / Band 1 / Seite 87